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Ein Bagdad-Gedicht in Bagdad

„Pre-Poetry-Slam“ – die Lebensgeschichte des alten Mannes vorgetragen als Gedicht

Foto (c) Astrid Vehstedt

25. November 2021

von Astrid Vehstedt

Seit meiner Schulzeit, als wir das Gilgamesch-Epos und Keilschrift lernten, habe ich eine Verbindung zum Irak, zu Mesopotamien als Wiege unserer Kultur. Seither verfolgte ich die Geschichte dieses Landes, nicht ahnend, dass ich selbst einmal dort würde arbeiten können. Als 2003 die damalige deutsche Bundesregierung beschloss, sich mit dem Argument „I am not convinced“ nicht in den Kreis der Willigen einzureihen, um Bagdad zu bombardieren, war ich erleichtert. Als eine ähnliche Koalition 1991 aufbrach, um Kuwait nach dem Überfall Saddam Husseins zu befreien, war ich ebenfalls erleichtert und verstand nicht, warum man diesem mörderischen Diktator nicht das Handwerk legen konnte. Unvergessen nach der Befreiung Kuwaits bleibt mir der Aufstand der Menschen in Basra gegen ihn, der brutal niedergeschlagen wurde.

Nach der Flucht und späteren Hinrichtung Saddams, dem von den Besatzern geschaffenen Machtvakuum, dem Bürgerkrieg und schließlich der rasant schnellen Ausbreitung des ISIS, später IS, kannten die Nachrichten aus dem Irak nur ein Thema: Bombenanschläge, Raketen, Entführungen, Hinrichtungen und andere Arten von Gewalt.

Im Frühjahr 2016 fiel mir eine Anthologie mit Texten und Gedichten irakischer Frauen in die Hände. Zeitgenössische Literatur aus dem Irak: das war ein kleines Wunder. Seither ließen mich die Geschichten nicht mehr los und im November 2017 wurde ich selbst erstmals zu einem Literatur- und Theaterworkshop nach Bagdad eingeladen.

Ein Jahr später schrieb ich ein Stück im Stil eines Oratoriums mit dem Titel Breaking News, das im Rahmen des IMPULS-Festivals in Halle uraufgeführt wurde. Das darin enthaltene Gedicht mit dem Titel Countdown im Zweistromland veröffentlichte ich in der 2021 erschienenen Anthologie des VS Brandenburg. Allerdings ist es dort unvollständig. Das Gedicht reflektiert die Bombardierung sowie ein Kriegsverbrechen der Amerikaner in Bagdad, welches Julian Assange aufgedeckt hatte.

Im November 2021 wurde ich kurzfristig zum internationalen Literaturfestival in Bagdad eingeladen. Es war eine Gelegenheit, mein Gedicht in die Stadt zu bringen, die Anlass zu seiner Entstehung gegeben hatte. Das Festival wurde von deutschen Institutionen wie der Deutschen Botschaft und dem Goethe-Institut gefördert, ebenso vom Institut Français. Kurz vor meinem Abflug erhielt ich die Nachricht von der Organisatorin, dass ich mein Gedicht nicht vortragen dürfe. Gründe wurden mir zunächst nicht genannt, so dass ich nach Bagdad flog, ohne dass die Situation geklärt war. Zudem hatte ich Goethe-Texte im Gepäck, die ich zusätzlich lesen sollte.

Die erste der drei Veranstaltungen des Literaturfestivals fand vor dem Osmanischen Palast am Ufer des Tigris statt. In der Nähe des alten, von den Engländern gebauten Uhrenturms war eine Bühne geplant. Der Abend sollte Texte von Goethe, Voltaire und Gegenwartsliteratur enthalten, darunter auch mein ins Arabische übersetzte Gedicht. Als ich am Ort der Veranstaltung eintraf, herrschte Hektik. Das ist nicht ungewöhnlich im Irak, aber eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung war die Bühne nur im Ansatz vorhanden. Das war ungewöhnlich. Der deutsche Botschafter war bereits da, und ich nutzte die Gelegenheit zu einem Gespräch. Er erklärte mir die Situation: in der Nähe befanden sich schiitische Milizen, und besonders diejenigen unter ihnen, die vom Iran finanziert werden, forderten den Abzug aller amerikanischen und anderer ausländischen  Truppen. Es sind ohnehin nur noch wenige im Land, aber die Forderung ist radikal und der Abzug soll bis zum Jahresende erfolgen. Die Regierung will ihrerseits die Amerikaner im Land behalten. Der neue Premierminister kam durch die Proteste der Bevölkerung ins Amt, die sich gegen die hohe Arbeitslosigkeit in der jungen Generation, mangelnde Bildung, Korruption und gegen den Einfluss des Iran richteten. Der Premierminister bemüht sich mit seinem Kabinett, das Land voran zu bringen und den Einfluss der Milizen zu begrenzen. In den jüngsten Wahlen hatte eine vom Iran unterstützte Partei geradezu erdrutschartige Verluste erlitten. Seither versammeln sich bezahlte Protestler vor der Green Zone, dem Regierungsviertel, in einem Protestcamp, um das Ergebnis der Wahlen anzufechten. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, wurde unlängst ein Drohnenangriff auf den Sitz des Ministerpräsidenten verübt.

In dieser instabilen Situation, erklärte mir der Botschafter, könnte es sein, dass mein Gedicht, das eine Anklage der Amerikaner sei, von den Milizen missbraucht werden könne, nach dem Motto: Seht ihr, die Deutschen sind auch gegen die Amerikaner. Nun kann man auch in Deutschland Gefahr laufen, Beifall von der falschen Seite zu bekommen. In einem politisch instabilen Land wie dem Irak ist die Situation jedoch wesentlich komplizierter. Und so verzichtete ich nach dem Gespräch mit dem Botschafter auf den Vortrag meines Gedichts an diesem Abend.

Im Nachhinein stellte sich die Situation als noch schwieriger heraus, als selbst der Botschafter mir erklärte. Milizen bemächtigen sich schrittweise der Kulturinstitutionen. Wer Kultur und Bildung im Land kontrolliert, hat einen beträchtlichen Einfluss. So hatte ich bereits während meiner Inszenierungsarbeit am Nationaltheater Bagdad im Juni 2021 gehört, dass der Schauspielunterricht an der Universität Bagdad eingestellt worden sei. Im Nationaltheater wurde einer meiner wenigen Probentage kurzfristig annulliert, weil eine Feier schiitischer Brigaden stattfand.

Das internationale Literaturfestival am Ufer des Tigris wurde ebenfalls von Milizen beeinflusst. Diese hatten einen Ort in der Nähe des Uhrenturms okkupiert, so dass die Bühne kurzfristig umziehen musste. Daher auch der hektische Aufbau kurz vor Veranstaltungsbeginn. Ebenso hatten sie einen geplanten Tanz in dieser Veranstaltung verboten. Die Veranstaltung selbst wurde vom Abendgebet unterbrochen, und ich hatte den Eindruck, dass die umliegenden Moscheen, vor allem aber die auf der anderen Seite des Tigris, wo sich auch das Camp befindet, ihre Lautsprecher bis zum Anschlag  hochgefahren hatten. Jedenfalls habe ich bisher in Bagdad noch nie ein so extrem lautes Abendgebet erlebt. Die Lautsprecher des Festivals hatten eindeutig das Nachsehen.

Bleibt nur zu hoffen, dass diese Einflüsse nicht weiter voranschreiten. Sonst könnte das höchst lebendige kulturelle Leben im Irak schnell wieder zugrunde gehen.

Mein Gedicht konnte ich dennoch vortragen: am folgenden Tag bei einem Poetry-Slam in der Alten Karawanserei in der Mutanabbi-Straße. Die arabische Übersetzung las Kadhem Khanjar aus Babylon/Hilla, einer der bekanntesten Poetry Slammer im Irak, wo diese Disziplin erst seit einem Jahr in der Öffentlichkeit zelebriert wird. Entsprechend war die Veranstaltung auch eher ein Happening, weniger ein Wettbewerb, und die Bühne glich am Schluss einem Schlachtfeld. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden mit einem Radiergummi in Form einer Goethe-Büste sowie einem echten Gingko-Blatt belohnt, das ich aus Deutschland mitgebracht hatte. Und da ich noch einige Gingko-Blätter übrig hatte, verteilte ich sie an die Menschen in meiner Umgebung, die sie mir förmlich aus der Hand rissen. Die Irakerinnen und Iraker, bei denen sich die Diskussionen um mein Gedicht bereits herumgesprochen hatten, wie sich vieles sehr schnell in Bagdad herumspricht, bedankten sich bei mir.

Meinungsfreiheit bedeutet auch, ihre Konsequenzen für andere zu bedenken. Ganz besonders in einem Land, in denen die Folgen schnell außer Kontrolle geraten können, wenn Worte durch Gewalt ersetzt werden.

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