Symbolbild
22. November 2022
von Jana Weinert
Schreiben bedeutet für viele von uns in einer Art Schreibmodus zu leben. Nein, keine Dauertrance. Eher eine Art erhöhte Wahrnehmungsbereitschaft mit speziellen Sensoren für besondere, poetische, spannungsvolle Begebenheiten, mit einem Instinkt für das Unerhörte, mit einem Empfangsnetz für Geschichten. Würden wir ihn nicht wahrnehmen, den poetischen Moment, würde er womöglich Haste-nicht-gesehen! vom Tagesradau und vom hektischen Zeitgeist überfahren, übertönt und in Vergessenheit geraten.
Nun hat man ihn behutsam eingefangen, den besonderen Moment – nur wohin damit in der Eile? Und wie am besten aufbewahren für später, für den passenden Zeitpunkt, an dem sich der frische poetische Fang lebendig einfügen lässt in ein größeres Gesamtwerk, oder sogar für sich allein steht und gut eingekleidet neu in die Welt hinauslaufen und von sich erzählen kann, so, dass er gehört und gesehen wird?
Für diese und andere Fragen lud Carmen Winter am 22.11.22 zu einer Werkstatt ein. „Tagebücher und Notizen“ war das Thema. Carmen Winter brachte Literatur sowie Kostproben eigener Arbeiten und Sammelsurien mit. Auch wir Teilnehmenden waren eingeladen worden, Tagebücher beizusteuern, was der Werkstatttisch der Galerie Brandel, an dem wir uns niedergelassen hatten, deutlich am Gewicht verschiedener Buchbindearbeiten zu spüren bekam. Wir saßen in einem der schönsten Räume in Berlin Friedrichshagen. Hier, zwischen Kunst und antiquarischen Büchern, unter einem Glasdach und quasi offenem Himmel lässt es sich gut konzentriert reden und arbeiten.
Es hatten allerdings Kolleginnen und Kollegen absagen müssen, so blieb die Runde klein. Die Herbstgrippe geht um. Eine von uns musste sich sogar um einen Igel in Not kümmern – da war er schon wieder, der besondere Moment.
Carmen Winter versorgte uns mit Anregungen aus der Literatur und mit Erkenntnissen, die sie in eigener Praxis mit Tagebüchern und Notizen gewonnen hatte. Es kam zwischen uns zu einem regen und anregenden Austausch – Sinn und Zweck dieser Runde.
Auf welche Weise lassen sich Alltagsbeobachtungen einfangen, festhalten? Wann oder warum begannen wir Tagebücher zu führen? Welche Kostbarkeiten sind darin aufbewahrt? Wie sind sie nutzbar? Wie ist der inzwischen meist große Fundus erschließbar? Natürlich dachten wir mit Ehrfurcht an Arno Schmidts Zettelkästen – aber welche Methoden nutzen andere und welche haben wir selbst bereits probiert. Auch ging es um die Erfahrungen mit digitalen Medien und sozialen Netzwerken. Um die Nutzung von Phonodiktaten, Zeitungsausschnitten und Fotos, oder eigenen Zeichnungen in Kombination mit Texten. Es ging um Traum-Notizen und wie Autoren damit bereits gearbeitet haben. Die Runde Lust auf mehr und darauf, weiter auf Empfang zu gehen – im Außen und im Innern.
Für alle die jetzt mit Grippe und Tee zu Hause bleiben mussten, und für alle, die jetzt neugierig geworden sind: Im Frühjahr möchte Carmen Winter die Werkstatt noch einmal anbieten.