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Wozu die Wörter gut sind. Ein Brandenburger in Salzburg.

Anton Thuswaldner, Reinhard Stöckel (v.l.n.r.)

Foto (c) Kerstin Stöckel

16. Septmeber 2021

von Reinhard Stöckel

Barocker Prunk und jedes Jahr ein Jedermann geläutert auf den Stufen des Doms. Soweit mein Vorurteil. Salzburg schien mir keine Reise wert.  Nun aber hatten sie mich eingeladen, Frau Müry und Frau Dr. Dürnberger, Verlegerin und Lektorin des Müry Salzmann Verlags. Endlich sollte, was von Corona bereits zweimal vereitelt worden war, wahr werden. Eine Lesung. In Salzburg. Sprunghaft gewann die Stadt für mich, dem nach Publikum dürstenden Autor, an Attraktivität. Zu danken war dies auch der Aktion #zweiterfrühling des Netzwerks der Literaturhäuser e.V. und dem Neustart Kultur des Deutschen Literaturfonds e.V.

Bücher, sorgfältig editiert und schön gestaltet, bringt der Müry Salzmann Verlag seit 2009 heraus. Gegründet von der Verlegerin Mona Müry und dem Unternehmer Christian Dreyer alias Salzmann liegt der Verlagsschwerpunkt auf Theater, Literatur und Kunst, Geschichte und Lebensart. Das 20. Jubiläum fiel mit der Notwendigkeit zusammen, neue Räume zu beziehen. Die befinden sich nun, dank einer glücklichen Fügung, in einer ehemaligen Tischlerei zu Füßen des Kapuzinerbergs. Dort lagen, als ich eintraf, verlockend hingebreitet die neusten Bücher auf einem Tisch im extrazimmer.  Ein Extrazimmer, erfuhr ich, entspreche in etwa dem deutschen Begriff des Hinterzimmers, also einem Ort für Glückspieler, Vereinsmeier und Verschwörer, so das Klischee. Dieses extrazimmer jedoch ist ein Raum für das öffentliche Gespräch über Kunst und Literatur, hier nämlich ist eine kleine Galerie zu Hause, die gleichzeitig einen attraktiven Rahmen für Veranstaltungen des Verlages bietet.

Passend zum jüngsten Projekt einer Anthologie anlässlich des 150. Geburtstages Marcel Prousts servierte mir Frau Müry eine Madeleine, jenes Gebäck, dass Proust inspirierte, sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit zu begeben. Die Madeleine und auch der Braune, halbe-halbe Kaffee und Milch, schmeckte. So saßen wir im extrazimmer, sprachen über Dialekte, die mal als Stigma, mal als Bereicherung empfunden werden, in denen einzelne Wörter schon absondern oder verbinden. Nicht von ungefähr kamen wir auf die Affinität der Österreicher zu Ostdeutschland zu sprechen. Mit Eleonora Hummel, Jens Wonneberger und mir hat der kleine Verlag drei ostdeutsch sozialisierte Autorinnen und Autoren im Programm. Und wie ein Willkommensgruß für einen Brandenburger hingen da Fotografien mit Motiven aus der Uckermark. Dort hatte der österreichische Fotograf Peter Hellekalek den Stand der Dinge dreißig Jahre nach der Wende dokumentiert. Ruth Mätzler, Autorin und Galeristin konstatierte anlässlich der Ausstellung: „Während die Westdeutschen nach wie vor als die ‚wahren Deutschen‘ erscheinen, bleibt ‚der Ostdeutsche‘ … immer noch ‚der Ostdeutsche‘, so als handele es sich um eine Art exotische Sonderform.“

Der Literaturkritiker Anton Thuswaldner, der die Lesung moderierte, sprach von der Wildheit der ostdeutschen Literatur.  Bereits 2015 schrieb er in einem Essay über die Verwandtschaft der österreichischen mit der ostdeutschen Literatur: »Die österreichische Literatur gilt als die kleine wilde Schwester der deutschen.“ Während sich die (west-)deutschen Erzähler auf eine moderate Mittellage eingeschworen hätten und auf einen harmonisch ausgewogenen Sprachduktus, neigten die österreichischen dazu, über die Stränge zu schlagen. Die österreichischen Literaten probierten aus, „wozu Wörter gut sind«. Sie griffen – wie die Autoren mit DDR-Hintergrund ­– »Autoritäten indirekt an«.

Nach vier Tagen Salzburg hatte die kulturelle und gastronomische Vielfalt in den Straßen der Stadt, ihre beinahe südländische Lebensart mein eingangs erwähntes Vorurteil schwinden lassen. Vor allem hatte mich die literarische Verbundenheit und freundliche Verbindlichkeit meiner österreichischen Gesprächspartnerinnen und -partner schon ein wenig heimisch gemacht. Das ist, wozu die Wörter gut sind.

 

 

 

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