ver.di Literaturpreis: „Ellie & Oleg“ von Katja Ludwig
Katja Ludwig (2. v.l.) und die Juroren, R. Stöckel, M. Wildner, B. Roscher (v.l.n.r.)
(c) Christian von Polentz
Ein Buch, das Mut macht
28. November 2024
von Reinhard Stöckel
Der ver.di Literaturpreis 2024 wurde in diesem Jahr in der Sparte Kinderbuch vergeben. Die Jury, der ich gemeinsam mit Martina Wildner (VS-Vorstand Berlin) und Benjamin Roscher (stellv. Landesbezirksleiter ver.di) angehörte, hatte unter 25 Einsendungen eine schwierige Wahl. Unter mehreren Favoriten entschieden wir uns jedoch einstimmig für „Ellie & Oleg“ von Katja Ludwig. Am 28. November fand die Verleihung im neuen Domizil des Landesbezirks Berlin-Brandenburg im Berliner Westend statt. Und mir war die Aufgabe zugefallen, eine Laudatio zu halten. Der Text sei hier wiedergegeben, auch um dem Buch weitere Leserinnen und Leser zu gewinnen:
Ellie & Oleg – der Schriftzug auf dem Cover lässt an einen Western denken wie Lucky Luke oder eine Klassiker wie Tom Sawyer & Huckleberry Finn, auf jeden Fall an Abenteuer. Der Untertitel und die Zeichnung versprechen Spannung: zwei Kinder allein und auf der Suche. Wonach? Hund oder Katze können es nicht sein, denn die sitzen dabei. Und wo? Nicht im Wilden Westen nicht auf einer Insel wie Robinson Crusoe, sondern, das Vorsatzblatt verrät es, die Prärie liegt an der Oder.
Und in der Gegenwart, genauer im März 2022. Dies verrät uns, den Leserinnen und Lesern, ein Fahndungsaufruf der Polizei. Und wir erfahren, nicht nur Ellie & Oleg sind auf der Suche, sondern auch die Polizei sucht nach den beiden Geschwistern mit „Foto“.
An dieser Stelle sei gesagt, es ist auch die graphische Gestaltung, es sind Typographie und Vignetten von Heike Herold, die für das Auge Fährten legen. Wohin führen Sie uns?
Wir treffen die zwölfjährige Ellie und ihren 8-jährigen Halbbruder Oleg zu Hause in einer kleinen Siedlung an der Oder. Dorthin ist die Familie vor kurzem gezogen, aus der Stadt. Die Geschwister warten auf die Eltern, die nur mal schnell noch ein paar Sachen aus der alten Wohnung holen wollten. Unbedingt wollten Ellie und Oleg allein bleiben, ohne elterliche Aufsicht und ohne das nervige Schwesterchen Lilac. Doch dann kommen die Eltern nicht wie geplant am Nachmittag zurück. Sie kommen nicht in der Nacht und auch nicht am nächsten Morgen.
Was ist bloß los? Was ist passiert? So fragen wir uns gemeinsam mit Ellie und Oleg. Und sind sofort mittendrin in dieser Geschichte und ihrem Konflikt: zwei Kinder allein zu Hause, ja – dieses Gefühl schafft der Text zu vermitteln – allein auf der Welt. Der Bogen ist gespannt, wohin der Pfeil der Erzählerin fliegt, wissen wir nicht, können nur hoffen, dass es gut ausgeht. Und jede Antwort ist dramaturgisch geschickt verknüpft mit einer neuen Frage:
Warum werden Ellie & Oleg gesucht?
Wo sind die Eltern abgeblieben?
Wie kommen die Kinder allein zurecht?
Was also ist geschehen?
So viele Fragen und kein Handy.
Wo ist bloß das Handy, Ellie hat es doch hundertpro mitgenommen. Doch nur Ladekabel und Powerbank liegen auf ihrem Nachttisch.
Die gute Nachricht: ein Leben ohne Handy ist möglich, sogar ohne Eltern, zumindest ein paar Tage lang.
Nach und nach erfahren wir: Ausgangssperre, Quarantäne… Da war doch mal was, ach ja, Corona. Ist das nicht Schnee von gestern?
Das große P, die Pandemie, geht um in dieser Geschichte. Dies ist als Rahmen gesetzt, dies bestimmt den Plot, macht ihn – hierzulande heutzutage – erst realistisch.
Zehn Tage sind wir mit Ellie & Oleg allein und auf der Suche. Das Essen wird knapp – Trauti, die Nachbarin ist ebenfalls verschwunden – vergeblich warten die Kinder an der Haltestelle auf eine Bus; der Fußweg ins Dorf endet an der Brücke über die Kleine Oder, vor einem provisorisch aufgestelltem Blechtor: „Sperrgebiet, Betreten verboten!“
Wohnt da nicht am Ende der Siedlung noch einer? Einer der sich Bill Buffalo nennt und ein Trinker ist. Bestimmt hat der ein Telefon! Doch der Suffkopp, so nennen ihn die Kinder, verjagt sie mit einem Gewehr…
Ellie ist es, die uns, den Leserinnen und Lesern, alles erzählt. Und sie erzählt es im Präsens, das macht die Geschichte der beiden Kinder sehr gegenwärtig. Keine erzählerische Vergangenheitsform signalisiert: es ist vorüber, es ging gut aus, muss ja, sonst könnte Ellie es ja nicht erzählen…
Das Mädchen erzählt von ihrer Familie, einer die man heute Patchwork-Family nennt, und in diesem Erzählen, spüren wir die zunehmende Sehnsucht nach den Eltern, Mommi und Ron genannt, ja sogar nach der plärrenden Schwester oder nach dem großen Bruder, der in der Stadt blieb, um sein Abi zu machen.
Wir hören wie Oleg, wenn er fies ist, seine schwarze Halbschwester Schokokuss nennt und sie den schwedenblonden Oleg, Schweinsohr. Beides Lecker, wie sie finden, wenn sie sich dann wieder vertragen.
Wir erfahren von Ellies Sorge um ihren kleinen Bruder, um das tägliche Essen, allein das wird zur Herausforderung. Wir hören von ihrer Furcht vor Gefahren wie den Suffkopp oder einen Auerochsen. Und wir sehen, wie sie Verantwortung übernimmt und lernen ihre Stärke kennen.
Wir bestaunen Olegs Einfallsreichtum, und fühlen seinen Ängsten nach, die er im Gegensatz zu Ellie offen zeigt, sind mit ihm dankbar für Trost und Bratkartoffeln.
Nach einer vergeblichen Expedition durch die Prärie auf der Suche nach Hilfe, liegt Ellie mit Fieberfantasien im Bett. Und jetzt ist es der kleine Bruder, der sich um sie kümmert und sich an Dinge wie Wadenwickel erinnert. Aber ist es eine gute Idee, zu versuchen, beim Suffkopp eine Flasche Bier gegen Eier tauschen zu wollen?
Die Autorin zeichnet die Charaktere der zwei Kinder sehr einfühlsam und differenziert, so dass der Text fernbleibt von Heldenklischees.
Und es ist eine immer wieder auch poetische Sprache, die inmitten aller Spannung durchatmen lässt:
Blühende Pflaumenbäume „sehen aus weiße Wolken, die in Ästen hängengeblieben sind.“
Selbst das Gefühl der abendlichen Verlassenheit, enthält etwas Tröstliches, wenn und vor allem weil Ellie dafür Worte findet, für dieses „Nichts aus Tintenblau und grau“.
Und dann wieder hören wir das romantische Rascheln des Schilfs im Abendwind. Doch die Zeit der Gutenachtgeschichten ist vorüber. Der Wind, denkt Ellie, „WILL uns in den Schlaf wiegen. Ich hoffe, er schafft es.“
Was wir aus dieser Geschichte lernen können?
Wie man Müsli zu Mehl macht und das Mehl zu Muffins.
Wie man Brennesselpamps zubereitet.
Und wie man mit Schmelzkäse wilde Hunde zähmt.
Wirklichkeitsnah beschriebt Katja Ludwig die Über-Lebensmittel der Kinder, so dass dieses Buch auch zu dem wird, was Ellie und Ollie nach getaner Arbeit aufschreiben, nämlich „Das einzig wahre Survival-Buch für Kinder“.
Und das ist, neben den stilistisch-erzählerischen Reizen dieses Romans, ein weiteres nicht gering zu schätzendes Plus: das Thema im Hintergrund. Das Thema, das eben nicht als Schnee von gestern längst dahingeschmolzen ist: das große P.
Eine vom Wissenschaftsjournal „The Lancet“ initierte Kommission untersuchte die mentale Gesundheit in den Industrieländern. Die internationalen Experten stellten fest, dass junge Menschen bis 25 Jahren eine „Hochrisikogruppe für psychische Erkrankungen“ bilden. Befragt nach einem Zusammenhang den Corona-Maßnahmen erläuterte der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert in einem Interview, das vor allem die soziale Isolation die Persönlichkeits-entwicklung beeinträchtigt habe, man könne hier „von einem Kipppunkt sprechen, analog zum Klimawandel“ mit weitreichenden Folgen, gesellschaftlich und vor allem für die Betroffenen. Neben gesellschaftlicher Aufmerksamkeit für dieses Problem fehlten den jungen Menschen, so die Lancet-Kommission, auch „Heldenerzählungen“. D.h. Erzählungen über Gleichaltrige, die wie sie vor Schwierigkeiten stehen, die manchmal scheitern, die aber mit Hilfe von Freunden oder älteren Menschen dennoch ihren Weg finden.
„Ellie & Oleg“ ist so eine „Heldenerzählung“, die nach wie vor aktuell ist. Denn große P wirkt nach, und andere Krisen, die großen K, seien es Klimawandel oder Krieg, verunsichern vor allem die junge Generation.
Diese Geschichte zweier Kinder, die sich durchschlagen, die sich durchkämpfen, durch eine bedrohliche Gegenwart, in eine ungewisse Zukunft. Es zeigt seinen jungen Leserinnen und Lesern: Ihr könnt das! Ihr seid stark!
Lassen wir sie dabei nicht allein! So wie dieses Buch sie nicht allein lässt, sondern Mut macht.